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Wieder einmal zieht es Kunstliebhaber aus allen Teilen der Welt nach Venedig. Auf den kleinen Inseln in der blauen Lagune feiert die Stadt die 56. Biennale und bietet ein Füllhorn zeitgenössischer internationaler Kunst. Das Motto „All the World’s“ stammt von dem aus Nigeria gebürtigen Kurator Okwui Enwezor. Und es tut sich ein düsteres Bild unserer Epoche auf mit all ihren Krisen, Konflikten, menschlichen Katastrophen und einem ungezügelten Kapitalismus. Viele Kunstwerke in den Länderpavillons behandeln ernste Themen wie die Flüchtlinge aus dem nördlichen Afrika, den Syrienkonflikt oder Bürgerbewegungen.

Die gigantische Schau spielt sich nicht nur in den Pavillons, in Hallen und Gärten der Giardini und rund um das Arsenale ab; über die ganze Stadt verstreut finden Veranstaltungen des Nebenprogramms statt. Auch diese drehen sich um einschneidende Ereignisse unserer Zeit, um postkoloniale Geschichtsschreibung und ihren kulturprägenden Einfluss oder appellieren an uns, sorgfältig mit unserer Umwelt umzugehen. Zeitgenössische Kunst, so zeigen die meisten Arbeiten, ist zu einem globalen Phänomen geworden, das weit über das Weltbild einer weißen Mittelklasse hinausgeht.

Judi Harvest (USA): Installation Room of Dreams, 2015, 18 blown and sculpted glass pillows, photo: Artist Archive, 56th Biennale Venice

Judi Harvest (USA): Installation Room of Dreams, 2015, 18 blown and sculpted glass pillows, photo: Artist Archive, 56th Biennale Venice

Aber hier soll es allein um Glas gehen, das optisch herausragendes Element in einer multimedialen Installation sein kann oder Hauptakteur einer Themenausstellung. Durch ein Labyrinth von Gässchen und über kleine Brücken hinweg wandere ich den Canal Grande entlang auf der Suche nach versteckten Glasschätzen in den schönen venezianischen Prachtbauten. Im Palazzo Tiepolo Passi, der noch heute von einer aristokratischen Familie bewohnt ist, entdecke ich ortsspezifische Installationen von Judi Harvest und Silvano Rubino. Harvest, die wie Rubino seit jeher mit Glas arbeitet, ließ sich von der Atmosphäre des Schlafgemachs inspirieren und platzierte dort handgeblasene Kissen unterschiedlichster Formen, Farben und Größen. Kissen begleiten uns vom ersten bis zum letzten Tag unseres Lebens, Kissen assoziieren wir mit Ausruhen und Träumen. Silvano Rubino seinerseits bildete außergewöhnliche Gegenstände des Salons in Glas nach und stellte diese den echten Möbeln, Teppichen, Tapeten und Vorhängen gegenüber.

Glas ist auch fester Bestandteil der Werke der international renommierten Pionierin von Konzeptkunst Frederica Marangoni. Schon in den 1970ern kombinierte sie es mit Neonlicht und beweglichen Bildern. In Venedig zerschneidet nun ein gewundener roter Leuchtfaden erbarmungslos brutal die weiße Marmorfassade des Ca‘ Pesaro Palasts von der Dachkante bis fast hinunter zum Wasser. Dort wickelt er sich um die Achse einer gigantischen Spule, einer technologischen Venus aus dünnem, flüchtig wirkendem Glas, kriecht weiter ins Innere des Museums und rinnt dort, zu Blut geworden, durch einen Haufen Stacheldraht. “The Leading Thread” steht für das Drama der Menschheit, und hinter einer Bettlerin erscheint ein Schriftbild mit den Worten “IT‘S NOT A GOOD DAY TO BE HUMAN” (Es ist kein guter Tag, um Mensch zu sein).

Lonneke Gordjin & Ralf Nauta (Studio Drift, Holland) : 20 steps, 2015, 12 m long kinetic sculpture, installed at furnace of Berengo studio at Murano, 40 glasstubes and robotic mechanism, photo: Drift´s archive

Lonneke Gordjin & Ralf Nauta (Studio Drift, Holland) : 20 steps, 2015, 12 m long kinetic sculpture, installed at furnace of Berengo studio at Murano, 40 glasstubes and robotic mechanism, photo: Drift´s archive

Nicht weit von hier liegt der Palazzo Nani Mocenigo mit dem Vitraria Glass + A Museum. „Precious: From Picasso to Jeff Koons” zeigt einzigartige, von namhaften Künstlern entworfene Schmuckstücke. Zwei exquisite Dekorarbeiten der Slowenin Tanja Pak aus geblasenem Glas und Pâte de verre sind im Erdgeschoss und im Shop zu sehen. Auch die neu eröffnete Catarina Tognon Galerie zeigt Glasschmuck und dazu Hinterglasmalerei der niederländischen Künstlerin Mieke Groot. Auf ihren häufigen Reisen in den Senegal lernte sie diese alte Tradition kennen und lieben. Für „Project Dakar“ greift sie religiöse Motive auf, arbeitet mit Fotos und arrangiert gemalte Tiere und Blumen um die Bilder herum.

Wim Delvoye (Belgium): Calliope, 2001 - 2002, stained glass, "Glasstress 2015 Gotika", Palzzo Franchetti, photo: Francesco Allegretto

Wim Delvoye (Belgium): Calliope, 2001 – 2002, stained glass, „Glasstress 2015 Gotika“, Palzzo Franchetti, photo: Francesco Allegretto

Als nächstes gelange ich auf meiner Glastour zur Piazza San Marco mit dem Galerie-Laden Martinuzzi. Massimo Lunardon zeigt dort seine Installation „Inundo“, ein ikonografisches Bild vom Auftauchen Venedigs aus den dunklen Wassern der Lagune. Der Künstler mahnt damit das Problem der Acque Alte an, der häufigen Überschwemmungen, die dem Weltkulturerbe zusetzen. Danach bringt mich das Vaporetto nach San Giorgio Maggiore, und ich kann nicht umhin, mir in der Basilika kurz die traumhaften, übergroßen Alabasterfrauenköpfe von Jaume Plensa anzuschauen, bevor ich „Le Stanze del Vetro“ besuche. Schon in vorangegangenen Jahren hat dieses Haus bedeutende Ausstellungen moderner und historischer Kunst mit Schwerpunkt Glas ausgerichtet. In diesem Jahr präsentiert es in „Glass from Finland“ herausragende Leihgaben der angesehenen Bischofberger Sammlung, darunter Meisterstücke führender Designer des 20. Jahrhunderts wie A. Alto, T. Wirkkala, K. Frank, T. Sarpaneva und O. Toikka. Die meisten Arbeiten sind längst Designikonen, aber hier bekommen wir die Chance, Varianten und Versuche zu sehen, die letztlich dorthin führten. Faszinierend die skulpturale Qualität vieler Arbeiten, beeindruckend, wie klar sich auch das Szenarium, Eis und Wasser, in ihren organischen Formen widerspiegelt.

Im nahen Tusculum, einem Garten mit Wasser und dem Teepavillon “Glass Tea House Mondrian” von Hiroshi Sugimoto, blättere ich durch den dazugehörigen ausführlichen Katalog: Die strengen Formen des gläsernen Gebäudes sind eine Reminiszenz an Mondrians abstrakte Muster.

Nahe der Ponte dell’Accademia finde ich den eindrucksvollen, in venezianischer Gotik erbauten Palazzo Franchetti. Zum vierten Mal beherbergt er die Ausstellung „Glasstress“, die dieses Jahr unter dem Motto „Gotika“ gemeinsam von der Berengo Stiftung und der Eremitage in St. Petersburg veranstaltet wird. Historische Objekte der russischen Sammlung begegnen eigens für diese Ausstellung geschaffenen Auftragsarbeiten von über fünfzig zeitgenössischen Glaskünstlern, darunter so bekannten wie Jake & Dinos Chapman, Olafur Eliasson und Jaume Plensa. Ihr aller Thema ist, direkt oder indirekt, die Gotik, sei es mit Bezügen zu Architektur und Handwerk oder zu mythologischen, religiösen, alchemistischen oder anderen spirituellen Aspekten. „Die Gotik“, so die Kuratoren von „Glasstress“, „war die erste internationale Kunstrichtung, war gemeinsame Sprache, bildete mindestens vier Jahrhunderte lang den Modus Vivendi vieler Völker. Wie die Mode hat sich auch die zeitgenössische Kunst zu einem weltumfassenden Stil entwickelt, zu einer Bibel der Armen, die von Europa bis Amerika, vom nördlichen Afrika bis Japan überall verstanden wird.“

Zum zweiten Teil von „Glasstress“ geht es nach Murano, der Wiege des venezianischen Glases. Seit Jahrzehnten engagiert sich hier Adriano Berengo für das Glasmacherhandwerk. Ihm verdanken wir die Umwandlung einer alten Manufaktur in eine Ausstellungshalle. Viele, speziell für diesen Ort geschaffene multimediale Arbeiten wie die ungewöhnliche kinetische Deckeninstallation des niederländischen Studios Drift neben dem enormen Glasofen würdigen diesen besonderen Ort. Im nahen Glasmuseum können Besucher nicht nur die jahrtausendalte Tradition dieses Kunsthandwerks erleben; inzwischen wird dort auch in einem erst kürzlich neu eröffneten Gebäudeflügel das Lebenswerk des großen Muranoer Maestro Luciano Vistosi ausgestellt. Wirkungsvoll arrangiert präsentieren sich seine handgeblasenen schwarzen und weißen lichtgefüllten Skulpturen. Sanft schimmern ihre weichen Konturen im Licht und sprechen unseren Tastsinn an.

Mit der Wanderausstellung „European Glass Experience“ in einem weiteren Teil des Museums, an der knapp achtzig junge Europäer beteiligt sind, endet meine Tour durch Venedig. Und wieder einmal zeigt sich auch an den metaphorischen und stilistischen Eigenschaften dieser Arbeiten, dass Glas eine Herausforderung ist und Künstlern eine unendliche Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten bietet.

 

Pavla Rossini, PhD, freie Kuratorin und Kunstjournalistin in Kopenhagen und Prag

Übersetzt aus dem Dänischen ins Englische von Lene Kyster und aus dem Englischen ins Deutsche von Petra Reategui


Federica Marangoni (Italy): part of the multimedia installation „The leading thread“, 2015, Ca‘ Pescaro, VENICE, photo: Carlo Biasia